Kapitel 4

Zwei Stunden später war Abby völlig erschöpft.

Sie hatte miterleben müssen, wie ein Haus explodierte, wie ihre Arbeitgeberin grausam starb, wie sie von Dämonen gejagt wurde (von denen sie einen mit ihren eigenen Händen getötet hatte), wie sie stundenlang durch übel riechende Gassen laufen musste und wie sie von einem Vampir geküsst wurde. Und wenn sie ehrlich war, war sie sich nicht sicher, was davon am zermürbendsten gewesen war.

Aber jetzt durchdrang eine schmerzhafte Müdigkeit ihr gesamtes Sein.

Ihre Füße taten ihr weh, sie roch wie ein überreifes Deponiegelände, und ein betäubender Schleier vernebelte ihre Gedanken. Im Augenblick hätte sie sogar dafür bezahlt, wenn ein lauernder Dämon hervorgesprungen und sie im Ganzen verschlungen hätte.

Leider waren die grässlichen Kreaturen, die noch vor drei Stunden so darauf bedacht gewesen waren, sie beide zu vernichten, in dem Moment verschwunden, als sie ihr vielleicht ganz gelegen gekommen wären. So blieb Abby nichts anderes übrig, als mit zitternden Beinen hinter einem stummen Vampir herzutrotten.

Vielleicht war das die Hölle, überlegte sie. Vielleicht war sie tatsächlich bei der mysteriösen Explosion gestorben und jetzt dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit durch dunkle, dämonenverseuchte Gassen zu ziehen.

Nein, es konnte nicht die Hölle sein, flüsterte eine treulose Stimme. Nicht, wenn ihr eine Ewigkeit voller Küsse von einem zauberhaften Vampir geboten wurde. Küsse, die sie in eine Pfütze aus sehnsüchtiger Begierde verwandelt hatten.

Ihr Herz setzte einen Moment lang aus, bevor sie heftig den Kopf schüttelte.

Offenbar befand sie sich schon im Delirium. Vampirküsse. Du meine Güte. Zweifellos hatte der toxische Gestank ihr den Rest gegeben. Es reichte.

»Dante.« Sie blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich kann nicht mehr weitergehen.«

Mit offensichtlichem Widerstreben hielt Dante an der Ecke der Gasse an und drehte sich um, um in Abbys störrisches Gesicht zu blicken. Obwohl sie so erschöpft war, hielt sie den Atem an.

Im matten goldenen Schein der Straßenlaterne war Dante außergewöhnlich schön. Sein wallendes rabenschwarzes Haar. Seine äußerst eleganten Gesichtszüge. Seine silbernen Augen, in denen eine tödliche Gefahr glomm. Das alles verband sich miteinander und schuf ein Bild, das die Knie jeder Frau einfach weich werden lassen musste.

Dante, der sich glücklicherweise ihrer verräterischen Gedanken nicht bewusst war, streckte den Arm aus, um Abbys Hand zu ergreifen.

»Es ist nur noch ein kleines Stück, ich verspreche es«, drängte er sanft.

Abbys Miene versteinerte bei seinen Worten nur.

»Das sagst du schon seit einer halben Stunde.«

Er grinste sie frech an. »Ja, aber diesmal lüge ich nicht.«

Abby lehnte sich gegen das Backsteingebäude. Sie war zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen, dass sie der Schicht aus Dreck, mit der sie bedeckt war, noch eine weitere hinzufügte. Was waren schon ein paar ekelhafte Keime mehr? »Ich hätte dich pfählen sollen, als ich die Chance dazu hatte.«

Eine rabenschwarze Braue wölbte sich bei ihrem trotzigen Ton. »Weißt du, Abby, du bist wirklich eine undankbare Göre.«

»Nein, ich bin müde, ich habe Hunger, und ich will einfach nur nach Hause.«

Dantes Gesicht wurde weicher, als er Abby eng an sich zog. Zärtlich streichelte er über ihre zerzausten Locken.

»Ich weiß, Liebste. Ich weiß.«

Vampir oder nicht, Abby bemerkte, dass seine Berührung auf seltsame Weise tröstlich war. Und einfach wunderbar. Ohne bewusst darüber nachzudenken, lehnte sie ihren Kopf an seine Brust.

»Dante, wird diese schreckliche Nacht jemals enden?«

»Das zumindest kann ich versprechen«, versicherte er ihr und zog sie sanft aus der Gasse heraus, bis sie auf einer schmalen Straße standen. »Siehst du das Gebäude an der Ecke? Das ist unser Ziel. Schaffst du es bis dahin?«

Abby betrachtete das unansehnliche Gebäude und kam letztlich zu dem Schluss, dass es in vergangenen Jahren wohl einmal ein Hotel gewesen war. Ein Hotel, das jetzt feucht, verschimmelt und ohne Zweifel voll von ganzen Horden hungriger Ratten war. Sie seufzte schwer, aber nickte Dante widerstrebend zu.

Sie war zu erschöpft, um sich mit ihm zu streiten. Wenn ein paar Ratten und ein verrotteter Stuhl der Preis dafür waren, ihre schmerzenden Füße ausruhen zu können, dann sollte es eben so sein.

»Lass uns gehen«, murmelte sie.

Bereitwillig nahm sie Dantes Hilfe an und humpelte an seinem Arm über die Straße, um das Gebäude herum bis zu dessen Rückseite. Dante ignorierte die schmale Tür, die lose in ihren Angeln hing. Stattdessen berührte er mit der Hand einen der lockeren Backsteine in der Nähe des Fensters. Erstaunlicherweise (nun ja, vielleicht war es gerade an diesem Abend überhaupt nicht so erstaunlich) erfüllte ein silberner Schimmer die Luft. Bevor Abby auch nur fragen konnte, was geschehen war, hatte Dante sie durch den mystischen Schleier in eine riesige Eingangshalle gezogen, in der alles in purpurroten und goldenen Farbtönen gehalten war.

Taumelnd hielt Abby an und blickte sich verblüfft um. Das war einfach unmöglich. An diesem Ort gab es keine Rattenplage. Dafür aber Säulen aus schwarzem Marmor, mit purpurfarbenem Samt überzogene Wände und eine Kuppel, die mit wunderschönen nackten Frauen ausgemalt war.

Es war luxuriös und exotisch und mehr als nur ein wenig dekadent.

»Was ist das für ein Ort?«, fragte sie staunend.

Dante lächelte schief, als er ihren Arm ergriff und sie zu einer versteckten Nische im hinteren Teil des Raumes führte.

»Frag besser nicht.«

»Warum?«

Er ignorierte ihre Frage und schob den hauchdünnen Vorhang beiseite, der mit goldenen Sternen besetzt war. Dann zog er Abby durch einen dunklen Gang, bis sie bei der letzten Tür angekommen waren. Er öffnete sie und wartete, bis Abby eingetreten war, bevor er die Tür fest hinter ihnen schloss und das Licht einschaltete.

Zu ihrer großen Erleichterung erkannte Abby, dass das große Zimmer deutlich gemütlicher war als die pompöse Eingangshalle, die sie hinter sich gelassen hatten. Die Täfelung aus Satinholz und die Ledermöbel, die auf einem elfenbeinfarbenen Teppich standen, strahlten Wärme aus. Eher wie ein englischer Landsitz als wie ein opulentes Bordell, beschloss Abby.

Geistesabwesend lief sie herum, um die in Leder gebundenen Bücher zu studieren, die die Regale an einer der Wände füllten. Sie holte tief Luft, bevor sie sich umdrehte, um Dantes zurückhaltendem Blick zu begegnen.

»Sind wir hier in Sicherheit?«

»Ja, das Gebäude befindet sich im Besitz eines Bekannten von mir. Es liegt ein Zauber darauf, der verhindern wird, dass jemand deine Anwesenheit hier spürt. Ob nun Mensch oder Dämon.«

Ein Zauber? Naja, das klang... weniger eigenartig als alles andere, was an diesem bizarren Abend passiert war. Aber Abby fühlte, dass es noch eine ganze Menge Dinge gab, die er ihr nicht erzählte. Das war immer ein schlechtes Zeichen.

»Und dein Freund?«, fragte sie.

»Was meinst du?«

»Ist er ein Mensch oder ein Dämon?«

Dante hob eine Schulter. »Er ist ein Vampir.«

Abby verdrehte die Augen. »Na toll.«

Mit einer geschmeidigen Bewegung stand Dante plötzlich vor ihr, und sein Gesicht trug im gedämpften Licht einen unerbittlichen Ausdruck.

»Ich würde vorschlagen, dass du versuchst, dieses ziemlich hässliche Vorurteil zu verbergen, Liebste«, warnte er mit seidenweicher Stimme. »Wir werden wohl Vipers Hilfe brauchen, wenn wir die nächsten Tage überleben möchten.«

Abby wurde mit einem Mal klar, dass sie zu dem Mann, der ihr in den vergangenen Stunden mehr als einmal das Leben gerettet hatte, tatsächlich mehr als nur ein wenig unhöflich gewesen war. Sie biss sich auf die Unterlippe.

»Es tut mir leid.«

Dante strich zärtlich mit den Knöcheln seiner Finger über ihre erhitzten Wangen.

»Es gibt da einiges, was ich erledigen muss. Ich möchte, dass du hierbleibst.« Die Finger glitten unter Abbys Kinn, und er sah ihr tief in die Augen. »Und was auch immer geschehen mag, öffne diese Tür nicht, bis ich zurückkomme. Hast du verstanden?«

Abby lief ein Schauder über den Rücken. Er ließ sie hier zurück? Allein?

Und was war, wenn er nicht zurückkam? Was, wenn irgendein Dämon sie angriff, während er weg war? Was wäre, wenn...

Abby raffte die Reste ihres Mutes zusammen und hob das Kinn. Hör auf, so ein winselnder Jammerlappen zu sein, schalt sie sich selbst. Sie hatte für sich selbst gesorgt, seit sie vierzehn Jahre alt gewesen war. Und nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Mutter, seit diese entdeckt hatte, dass das Leben mit ein er Whiskyflasche einfacher zu ertragen war.

Und das alles ohne die Hilfe eines sündhaft schönen Vampirs.

»Ich habe verstanden.«

Als ob er die Bemühungen, die es sie kostete, tapfer zu wirken, spürte, schlossen sich seine Finger enger um ihr Kinn. Ihre Blicke trafen aufeinander, und dann beugte er sich zu Abby und streifte sanft mit seinen Lippen über ihre. Wieder und wieder. Seine Berührung war leicht wie eine Feder, aber das reichte aus, um Abbys gesamten Körper vor Lust prickeln zu lassen. Prickeln und erbeben und eine ganze Menge anderer aufregender Dinge.

Schließlich richtete Dante sich wieder auf und trat einen Schritt zurück. Noch immer benommen beobachtete Abby stumm, wie er sich umdrehte, um den Raum zu verlassen. Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, erinnerte sie sich daran, dass sie atmen musste.

Nun...

Es schien, als seien ihre Füße nicht annähernd so müde, wie sie gedacht hatte, denn ihre Zehen waren vor Lust gekrümmt.

Der hysterische Drang zu lachen stieg in ihrer Kehle auf, als sie sich auf ein Ledersofa fallen ließ. Vampirküsse, na klar. Sie war wohl verrückt. Das war die einzige Erklärung. Sie war total verrückt, absolut übergeschnappt.

Und zum Glück im Moment zu erschöpft, als dass es ihr etwas ausgemacht hätte.

Abby ließ es zu, dass ihr Kopf auf die Lederkissen fiel, atmete tief ein und schloss die Augen. Zum ersten Mal seit Stunden sah sie weder ständig über die Schulter, um zu prüfen, ob sie von marodierenden Dämonen verfolgt wurde, noch musste sie durch vergammelnden Abfall waten. Es war nicht einmal ein Vampir in Sicht.

Einen Augenblick lang konnte sie sich einfach entspannen.

Entspannen? Ja, sicher, spottete eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf.

Sie holte tief Atem. Nein. Sie konnte das hier. Sie brauchte nur ein wenig Konzentration.

Entspann dich, entspann dich, entspann dich, sang sie im Stillen. Sie schmiegte sich tiefer in die Kissen. Sie atmete langsamer. Sie versuchte sich einen wunderschönen Wasserfall vorzustellen, eine friedliche Wiese, den Klang von Walen (wie zum Teufel die auch immer klingen mochten).

Es war ein sinnloses Unterfangen, das sie aufgab, als ihr eine Gänsehaut über den Körper lief.

Unvermittelt packte sie die Gewissheit, dass sie nicht länger allein war. Ihre Augen öffneten sich flatternd, und sie hob den Kopf von den Kissen. Ihr Herz stand still, als ihr bewusst wurde, dass ihre Instinkte recht gehabt hatten.

Ein Mann stand mitten im Raum.

Nein, kein Mann, korrigierte sie sich rasch. Jetzt, nachdem sie die Wahrheit über Dante erfahren hatte, konnte sie erkennen, was diese allzu perfekten Züge und diese äußerst elegante Erscheinung bedeuteten.

Allerdings kam sie schnell zu dem Schluss, dass dieser Vampir nicht gerade ein Ebenbild von Dante war. Er war größer und schlanker, mit harten Muskeln, die sich unter dem purpurroten Samtmantel, der fast bis zu seinen Knien reichte, und der schwarzen Satinhose abzeichneten. Sein Haar im hellen Silberton des Mondlichtes trug er lang, und seine Augen waren überraschenderweise so schwarz wie eine dunkle Nacht. Und obwohl sein Gesicht unwiderstehlich schön war, besaß es dennoch einen herben Zug, der ihr einen Schauder über den Rücken jagte.

Dies war nicht der auf charmante, verführerische Art böse Junge.

Dies war ein erlesener gefallener Engel, der sich von der Welt fernhielt, die um ihn herum existierte.

Abby stand langsam auf. Sie stellte fest, dass sie sich nervös über die Lippen leckte, als der Vampir nonchalant zu ihr schlenderte. Der Blick aus seinen mitternachtsschwarzen Augen glitt mit einer enervierenden Intensität über ihren Körper. Erst einen Schritt vor ihr hielt er an.

»Ah. Abby, nicht wahr?«

Die dunkle Stimme strömte über sie wie warmer Honig. Es war eine Stimme, die genauso tödlich faszinierend war wie der Rest von ihm. Er fiel in die Kategorie »gefährlich«, und das wurde in diesem Fall mit einem großen G geschrieben.

Aber Dante hätte sie nicht hier gelassen, wenn er nicht glauben würde, dass sie hier in Sicherheit wäre. Sie mochte zwar nicht viel über den Vampir wissen, der sie gerettet hatte, aber sie wusste, dass er sie nicht absichtlich einem seiner Kumpel als Abendessen überlassen würde.

Oder?

»Ja, und ich nehme an, Sie sind Viper?«, murmelte Abby höflich.

»Sehr scharfsinnig.« Die dunklen Augen glitten über Abbys schmales Gesicht und ihre honigfarbenen Locken. »Und einfach hinreißend.«

Hinreißend? Abby runzelte leicht die Stirn. War er blind? Oder hatte er etwas Niederträchtiges im Sinn? Sie war nie mehr als ordentlicher Durchschnitt gewesen. Und da war sie nicht mit Dreck bedeckt gewesen und hatte nicht nach schmutzigen Gassen gestunken.

»Danke... würde ich mal sagen.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem aalglatten Lächeln.

»Ihr braucht mich nicht mit solchem Misstrauen anzusehen. Ich ernähre mich nie von meinen Gästen. Das ist ziemlich schlecht fürs Geschäft.«

Was für eine Erleichterung. Abby räusperte sich.

»Und in welchem Geschäft sind Sie tätig?«

»Ich bin ein Vermittler von Genuss«, sagte er einfach.

Abby starrte ihn bei diesen unerwarteten Worten entgeistert an. »Sie sind ein Zuhälter?«

Sein sanftes Lachen erinnerte sie entschieden an Dante.

»Es ist nichts so Mondänes«, schnurrte er leise. »Was ich zu bieten habe... o nein, Dante wäre mir nicht gerade dankbar, wenn ich Euch dermaßen schmutzigen Geschichten aussetzen würde. Er ist erstaunlich besorgt um Euch.« Ohne Vorwarnung streifte er leicht mit der Hand ihre Wange. »Und das ist kein Wunder.«

Sie wand sich unbehaglich. »Wie bitte?«

»Eine solche Reinheit.« Sein Blick glitt über ihren verkrampften Körper, bevor er wieder zu ihrem blassen Gesicht zurückkehrte. »Ein goldenes Leuchtfeuer in der Dunkelheit.«

Zuerst hinreißend und nun rein? Der arme Vampir hatte wohl wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Kein sehr tröstlicher Gedanke.

»Ich fürchte, Sie verwechseln mich mit jemand anders«, sagte sie langsam, um sicherzustellen, dass er ihren Worten folgen konnte.

Anscheinend wurde ihm bewusst, dass sie befürchtete, er sei wahnsinnig. »Ich spreche nicht von Keuschheit.« Er vollführte eine elegante Geste mit der Hand. »So eine langweilige Obsession der Sterblichen. Oder sogar des Geistes, den Ihr in Euch tragt. Ich spreche von Eurer Seele, Abby Ihr habt Tragik und sogar Verzweiflung kennengelernt, doch Ihr bliebt unbefleckt.«

Abby machte vorsichtig einen Schritt nach hinten und wünschte verzweifelt, Dante möge zurückkehren. Dieser Viper hatte etwas sehr Enervierendes.

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Das Böse, Lust, Gier - die dunkleren Leidenschaften, von denen sich die Sterblichen so leicht in Versuchung führen lassen.«

»Na ja, ich nehme an, jeder wird in Versuchung geführt.«

»Ja, und so wenige widerstehen.« Er trat noch näher, und seine Finger strichen erneut über ihre Wange. »Eine solche Unschuld muss eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf diejenigen ausüben, die durch die Nacht wandern. Bosheit sucht stets nach Erlösung, so wie die Schatten nach dem Licht streben.«

Abbys Kopf begann zu schmerzen, als sie versuchte, den schwer verständlichen Enthüllungen zu folgen. Wow - und sie hatte schon gedacht, Dante spräche in Rätseln.

»Ah... klar«, murmelte sie und machte einen Schritt nach hinten in ihrem merkwürdigen Pas de deux. »Wo ist Dante?«

Viper zuckte mit den Achseln. »Er hat mir nicht seinen vollständigen Reiseplan gegeben, aber ich weiß, dass er sich auf die Suche nach Frühstück gemacht hat.«

Abbys Magen gab unvermittelt ein erleichtertes Knurren von sich. Sie konnte sich nicht einmal mehr an ihre letzte Mahlzeit erinnern. Was bedeutete, dass sie viel zu lange her war.

»Gott sei Dank, ich verhungere schon fast. Ich hoffe, er bringt...« Die köstlichen Bilder von Pfannkuchen, Eiern und Schinkenspeck verloren plötzlich ihren Glanz, als sie daran dachte, was Dante bei seinem Mahl vor dem Morgengrauen zu sich nehmen würde.

Viper hob bei Abbys unverkennbarem Schauder eine goldene Augenbraue.

»Macht Euch keine Sorgen, hinreißende Abby. Er befindet sich nicht auf der Jagd.« Er bewegte sich mit faszinierender Anmut, als er ein völlig unauffälliges Holzpaneel in der Wand öffnete, um einen kleinen Kühlschrank zu präsentieren, der mit dunklen Flaschen gefüllt war. »Das hier ist das Zuhause eines Vampirs. Ich verfüge stets über einen stattlichen Vorrat an synthetischem Blut. Das Frühstück ist für Euch bestimmt.«

Lächerlich erleichtert darüber, dass Dante dort draußen nicht glücklosen Fußgängern das Leben aussaugte, atmete Abby tief aus.

»Oh, das ist gut.«

Der Vampir schloss das Paneel und lächelte auf mysteriöse Weise, während er zu ihr zurückkehrte und sich vor ihr aufbaute.

»Ihr wisst es nicht, oder?«

Abby sah ihn erstaunt an. »Wissen - was?«

»Seit Dante von den Hexen gefangen wurde, ist er nicht mehr in der Lage, Blut von einem Menschen zu trinken. Es ist ein Element des Zaubers, der ihn an den Phönix bindet.«

»Oh, ich... verstehe.«

»Nein, ich glaube ganz und gar nicht, dass Ihr es versteht«, entgegnete der Vampir leise. »Das Leid, das Dante in den vergangenen über dreihundert Jahren erdulden musste, ist unermesslich groß. Er wurde von jenen gefangen und an die Leine gelegt, die kein Mitgefühl besitzen, keine Fähigkeit, ihn als mehr zu betrachten denn als Monster.«

Abby wurde ganz still. Lieber Himmel. Sie war so von ihren eigenen Ängsten erfüllt gewesen, dass sie sich nie auch nur einen Moment Zeit genommen hatte, um darüber nachzudenken, was Dante in all diesen endlosen Jahren hatte erleiden müssen. Er war ein Gefangener gewesen, für alle Zeiten an Selena gekettet. Es war ein Wunder, dass er das wehleidige Etwas namens Abby nicht in den nächsten Rinnstein befördert und als Dämonenfutter zurückgelassen hatte.

»Er ist kein Monster«, gab sie scharf zurück.

»Es besteht keine Notwendigkeit, mich zu überzeugen, meine Liebe.« Er sah ihr tief in die Augen. »Ich kann nur hoffen, dass Ihr sein Leiden verstehen und alles tun werdet, was möglich ist, um ihm seine Bürde leichter zu machen.«

»Ich?«

»Ihr besitzt nun die Macht.«

Abby blinzelte und schüttelte leicht den Kopf. »Und ich dachte schon, Dante sei geheimnisvoll. Ich will Sie ja nicht beleidigen, aber Vampire sind schon wunderliche Kreaturen. Nicht so wunderlich wie dieser Haiford oder die Höllenhunde, aber definitiv wunderlich.«

Er lachte leise und streckte die Hand aus, um ihre Locken zu berühren. »Wir sind uralte Wesen. Wir haben die Geburt und den Niedergang ganzer Nationen miterlebt. Wir waren Zeugen von endlosen Kriegen, Hungersnöten und Naturkatastrophen. Bestimmt sind uns ein paar exzentrische Verhaltensweisen gestattet.«

Und was fiel ihr dazu ein?

»Oder wenigstens ein Verwundetenabzeichen.«

Vipers Augen nahmen augenblicklich einen Ausdruck an, der möglicherweise Belustigung darstellte. »Es gibt auch Freude, Genuss unerwarteter Schönheit. Einer Schönheit wie Eurer.«

»Ein exquisiter Geschmack wie immer, Viper«, erklang eine samtweiche Stimme aus der Türöffnung.

Erstaunt über die Unterbrechung drehte Abby den Kopf und erkannte Dante, der langsam auf sie zuging. Lässig warf er den Koffer, den er in der Hand hielt, aufs Sofa, ohne innezuhalten.

Erleichterter über seine Rückkehr, als sie zugeben wollte, ließ Abby den Anblick des blassen, verführerischen Gesichtes auf sich wirken. So lächerlich es auch sein mochte, das zu akzeptieren, aber es fühlte sich beinahe so an, als habe während seiner Abwesenheit ein Teil von ihr selbst gefehlt. Ein Teil, der sich jetzt wieder vollständig anfühlte.

Sie war sich kaum dessen bewusst, dass Viper nun hinter ihr stand und seine Hände leicht auf ihren Schultern ruhten.

»Also kehrst du endlich zurück, Dante«, sagte Viper. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht.«

Die silbernen Augen verengten sich, als Dante scharf die Hände anblickte, die auf vertrauliche Weise Abbys Schultern umfassten.

»Deine Besorgnis berührt mich sehr, Viper«, entgegnete Dante. »Und da wir gerade von Berühren sprechen...«

Die drohende Schärfe in der weichen Stimme war nicht zu überhören, aber Viper lachte nur.

»Man kann einen Vampir nicht dafür verurteilen, eine solche Reinheit zu bewundern. Sie ist sehr... berauschend.«

»Dann solltest du vielleicht etwas frische Luft schnappen, damit dein Kopf wieder klar wird«, warnte ihn Dante.

»Stets der Krieger.« Viper ergriff Abbys Finger und zog sie an seine Lippen. »Wenn Ihr Euch entscheiden solltet, dass Ihr einen Dichter bevorzugt, verlangt nach mir.«

»Viper«, knurrte Dante.

Mit dem gleichen mysteriösen Lächeln wie vorher verbeugte sich Viper vor dem anderen Vampir, bevor er zur Tür ging.

»Ich werde euch beide verlassen, damit ihr euch ausruhen könnt. Ihr braucht nicht zu befürchten, dass ihr belästigt werdet.

Ich verspreche, euch die Wölfe, oder in diesem Fall die Dämonen, vom Leib zu halten.«

Als sie allein waren, wartete Dante einen Augenblick, bevor er Abbys Hand ergriff, die Viper noch vor so kurzer Zeit liebkost hatte.

»Du musst meinem Freund vergeben«, meinte er mit einem ironischen Lächeln. »Er glaubt, er wirke auf Frauen unwiderstehlich.«

Abby unterdrückte den Drang, mit der Hand Dantes Gesicht zu berühren, und zuckte geistesabwesend mit den Achseln.

»Er ist ziemlich faszinierend.« Sie hatte das Gefühl, das zugeben zu müssen. Sicherlich würde nicht einmal ein brabbelnder Schwachkopf glauben, dass dieser wunderschöne gefallene Engel sie vollkommen kaltließ.

»Du findest ihn attraktiv?«

»Auf eine untote Art und Weise.«

Sein Gesicht nahm einen verschlossenen Ausdruck an.

»Ich verstehe.«

»Aber er macht mir auch Angst. Ich glaube, er würde alles und jeden auf seinem Weg vernichten, wenn es seinen Zwecken dienen würde.«

Ein Lächeln glitt über Dantes Lippen. »Er wird dir nichts tun. Nicht, solange ich in deiner Nähe bin.«

»Wo warst du?«

Dante drückte Abbys Finger leicht. Dann ging er zu dem Koffer zurück, den er auf dem Sofa hatte liegen lassen, und öffnete ihn.

»In Selenas Haus, um ein paar Habseligkeiten zu holen, die wir vielleicht brauchen können.« Er zog mehrere Jeanshosen und legere Baumwollhemden heraus, die früher Abbys Arbeitsgeberin gehört hatten. »Sie passen vielleicht nicht perfekt, aber sie sollten genügen.«

Abby seufzte erleichtert bei dem Gedanken an saubere Kleidung. Ein kleines Stück vom Paradies.

»Vielen Dank«.

Dante griff wieder in den Koffer und zog einen kleinen Plastikbehälter heraus. »Und ich habe dir auch das hier mitgebracht.«

»Was ist das?«

»Etwas, wovon ich glaube, dass du es bald brauchen wirst.«

Wider alle Vernunft hoffend, dass es ein Schokoladeneisbecher war, nahm Abby den Behälter entgegen und öffnete langsam den Deckel. Sie rümpfte die Nase angesichts des fauligen Geruchs, der aus der klebrigen grünen Masse drang, bei der es sich mit ziemlicher Sicherheit nicht um Schokoladeneis handelte.

»Igitt, das ist dieses scheußliche Zeug, das Selena immer getrunken hat.«

»Du wirst davon satt werden.«

Hastig stellte Abby den Behälter auf einen Tisch in ihrer Nähe. »Von einem Cheeseburger und Pommes ebenfalls, und bei denen gibt es keinen ekelhaften grünen Nachgeschmack.«

»Abby.« Sonderbarerweise drehte sich Dante um, um durch den großen Raum zu wandern, wobei seine Finger rastlos durch seine Haare strichen. »Es gibt da etwas, was du wissen musst.«

Abby lief es eiskalt den Rücken herunter, als sie seine raue Stimme vernahm. Sie wusste vielleicht überhaupt nichts über Vampire, aber sie kannte diesen Tonfall. Er bedeutete immer Ärger.

»Was denn?«

Langsam drehte er sich um, um sie mit einem ernsten Gesichtsausdruck prüfend anzusehen.

»Als Selena starb, hat sie dich berührt.«

Widerstrebend rief sich Abby diese furchtbaren Momente in Selenas verkohltem Schlafzimmer in Erinnerung. Sie hatte eigentlich versucht, sie aus ihrem Kopf zu bekommen.

Dann nickte sie. »Ja, ich erinnere mich. Ihre Finger haben sich bewegt, und dann packte sie mich am Arm. Es tat weh.«

»Der Grund ist, dass sie dir ihre Kräfte übertragen hat.«

»Ihre... Kräfte?«

»Den Geist des Phönix«, erklärte Dante. »Er wohnt jetzt in dir.«

Abby taumelte zurück, als sie auf die Pointe dieses kranken Scherzes wartete. Es musste doch eine Pointe geben, oder? Denn wenn das nicht der Fall war, dann meinte Dante seine Worte ernst. Und das würde bedeuten, dass irgendeine entsetzliche Kreatur ihr Lager in ihr aufgeschlagen hatte.

Abby umklammerte mit zitternden Händen ihren Hals. Sie konnte nicht atmen. Konnte nicht denken.

»Nein«, brachte sie schließlich hervor. »Du lügst.«

Dante, dem Abbys Ängste nicht entgangen waren, ging mit ausgestreckten Händen einen Schritt auf sie zu. »Abby, ich weiß, dass das schwierig ist.«

Abby brach in ein hysterisches Lachen aus und prallte gleich darauf schmerzhaft gegen die getäfelte Wand.

Sie hatte gedacht, dass es nichts mehr gäbe, was sie schockieren könnte. Und wie auch? Nichts konnte schlimmer sein als Dämonen und Vampire.

Zumindest hatte sie das angenommen.

Nun schüttelte sie heftig den Kopf. »Was weißt du denn schon? Du bist nicht einmal ein Mensch.«